Brief von Massimo über die Repression und die Solidarität

Brief von Massimo über die Repression und die Solidarität

Ein Fakt

kurze Gedanken über die Repression, die Solidarität und die No Tav Bewegung

29. November 2012. Eine weitere Welle von Verhaftungen und restriktiven Maßnahmen gegen die NoTav-Bewegung. Man kann nicht sagen, dass die Menschen im Innenministerium schlafen würden. Die unterschiedlichen Staatanwaltschaften bringen weiter Haftbefehle heraus, die die Richter annehmen, oder hochstens in ihrer Zahl und Form etwas beschränken; sie lassen aber fast nie die StaatanwältInnen mit leeren Händen gehen. Man geht in den Knast oder wird unter Hausarrest gestellt, aufgrund von Vorwürfen, weswegen man in der Vergangenheit auf freiem Fuß geblieben wäre. Der Grund dafür ist nicht zufällig und hat gar nichts mit juristischen Fragen zu tun. (Die NoTav-Bewegung weiß gut darüber bescheid, denn sie wurde verschiedenen außerjuristischen freiheitsbeschränkenden Anordnungen unterzogen: von der andauernden Schaffung permanenter roter Zonen, bis hin zu der Flut von Aufenthaltverboten, die innerhalb die letzen Zeit verfügt wurden, um die „Sonderüberwachung“ zu beenden, die während des jüngsten Ausflugs der NoTav nach Lyon angeordnet wurde).

Die Macht muss hart zuschlagen, um die Akkumulation von Profiten weiter gewährleisten zu können. Der Kaufwert des Geldes – zunehmend beinflusst durch die immer direktere Intervention des Staates in der Gesellschaft– wird uns durch die Gewalt der Polizei aufgezwungen. Von Equitalia (An.d.Ü: die berühmteste Inkasso-Gesellschaft Italiens) bis hin zu den Zwangsräumungen, von den Angriffen der Polizei auf die Plätze bis hin zu denen gegen die Löhne und Renten, das staatliche Gewaltmonopol ist die letze Wahl für einen Kapitalismus, der sich gerade innerhalb eines tiefen Restrukturierungsprozesses befindet.

Diese Gewalt wird nicht beschränkt, weder durch Gesetze, die Konstitution, den sogennanten Sozialpakt usw., im Gegensatz zu den Aussagen der demokratischen Märchen. Die einzige Grenze ist die Rebellion (reelle oder befürchtete) der Ausgebeuteten. Wenn die Macht sich längerfristige Projekten vornimmt – z.B. die „Kosten der Arbeit“ noch mehr zu senken, die Privatisierung des Gesundheitssystems, das Rentensystem zu demontieren, die Sparguthaben von Millionen Menschen zu rauben, die Gesellschaft weiter zu militarisieren usw. – die einzelne Maßnahmen dürfen nicht nur als Zwischenetappen, sondern auch als Überprüfungen auf dem Feld der sozialen Duldung betrachtet werden.

In diesen Sinn hatte Monti Recht, als er sich vor einigen Monaten im Ausland befand, um einen Preis in Empfang zu nehmen und dabei deklarierte, dass dieser Preis an die „italienische Bevölkerung“ aufgrund „ihres gezeigten Aufopferungsgeistes“ gehen sollte. „Das Volk des Kapitals ist einer von StoikerInnen“ schrieben mit gegenteiligen Absichten Collu und Cesarano in „Apokalypse und Revolution“ (1974). Aber etwas ist dabei sich zu ändern, wie z.B. aus dem letzen, besorgten Bericht der Censis (An.d.Ü. ein wichtiges Forschungsinstitut Italiens für soziale und ökonomische Veränderungen des Landes) über die Proteste in Italien hervorgeht und wie dies in halb Europa am vergangenen 14. November zu beobachten war. Auch die Ausgebeuteten fangen an, ihre Feldforschung zu machen, deshalb bereitet jeder Kampf den nächsten vor, jede Barrikade kann die nächste solider machen. Die wichtigste Überprüfung ist selbst das Sehen, Verstehen, Experimentieren, das sich der staatlichen Gewalt entgegenzustellen – die auch, aber nicht nur, eine der Polizei ist – zu erfahren.

Dort zeigt sich die Notwendigkeit des Staates – trotz der Polizei, der Magistratur, der Massenmedien – auf die NoTav-Bewegung zu zielen.

Und auf sie zu zielen, aufgrund dessen, was er getan hat und noch tut, aber auch für der Sinn des Möglichen den er vermittelt. Das Gleiche gilt für die revolutionären Komponenten, die nie ein Geheimnis daraus gemacht haben, auf welcher Seite der Barrikaden sie stehen.

Lästige SpaßverderberInnen während der Zeiten des sozialen Friedens, sie werden zu gefährlichen Funken – reellen oder potenziellen – dort wo der Konflikt wieder an Kraft und Konsistenz gewinnt.

Falls diese schnelle Analyse korrekt ist, ist es ein gravierender Fehler, zu versuchen, die Aufmerksamkeit nur auf die Ermittlungen zu konzentrieren, die etwa „präsentablere“ Vorwürfe thematisieren und dabei die unterschiedlichen Ermittlungen auszugliedern. Und noch gravierender, aber auch traurig, ist die Nennung in den manchen Solidaritätsinitiativen von nur einigen der betroffenen NoTav-Aktivist_innen.

Es ist gar nicht wahr, wie schon geschrieben und gesagt wurde, dass das Ziel der repressiven Operation des 29. November die Autoren der Besetzung des Geovalsusa-Büros gewesen wären. Die Autoren des vermeintlichen Angriffs auf den Fernsehsender sind nur eine mediale Nebensache. Auch für die Fakten von Chianocco (An.d.Ü. : wo der vermeintliche Angriff stattgefunden hat) hatte die Staatsanwaltschaft nach 8 restriktiven Maßnahmen gefragt (5 davon waren Haftbefehle).

Der juristische Apparat – der noch nie so wie jetzt in direkter Kooperation mit den Innenministerium zusammenarbeitete – handelt auf eine Art, die gar nicht so anders ist als die der Macht in ihrer Gesamtheit. Sie gibt sich neben kurzfristigen auch langfristige Ziele vor und überprüft praktisch, bis zu welchem Punkt sie gehen kann. Es widerspricht gar nicht den Tatsachen, dass einzelne aus der Magistratur Bürokraten sind. Sie wissen, dass es schwieriger ist die NoTav-Bewegung in Bezug auf Tage wie den 27. Juni oder den 3.Juli 2011 anzugreifen. Sie kann sich dem aber heutzutage nicht entziehen, im Gegensatz zum 8. Dezember 2005, als ein ganz anderes politisches und soziales Klima herrschte. Sie weiß auch, dass die Karte der Vereinigungsdelikte – die sie vor allem gegen einige revolutionäre Teile, vor allem AnarchistInnen, weiter ausspielt – als kontraproduktiv erscheinen könnte, wenn sie auf eine Massenbewegung übertragen würde. Und deshalb klagt sie einzelne Episoden an, sie dekontestualisiert wie immer, gegen NoTav-Aktivist_innen, die meisten nicht aus dem Tal kommen.

Dabei versuchen sie jahrelange Haftstrafen zu erreichen und überprüfen währenddessen den Grad der inneren Solidarität der Bewegung.

Gleichzeitig ist eine Staatsanwaltschaft der Provinz Trentino mit einem Repressionsversuch betraut, nicht nur innerhalb des Herzes des Konfliktes – sondern in Turin. In der Rahm einer Ermittlung gegen eine „subversive Vereinigung mit terroristischen Absichten“ (der bereits bekannte 270bis§). 43 AnarchistInnen wirft die Staatsanwaltschaft von Bologna vor, die Auseinandersetzungen am 3. Juli im Tal sowohl organisiert, als auch geleitet zu haben – und das obwohl diese Genoss_innen nicht mal unter den 45 NoTav-Aktivist_innen sind, die in Turin unter Prozess stehen. (Caselli war bei der Formulierung der Anklage sehr vorsichtig, denn die NoTav-Bewegung ist die lebendige Negation dieser Art von Verhalten.) Der Versuch in der Region Trentino wurde aber zusammen mit der Digos (An.d.Ü die italienische politische Polizei) aus Turin vorbereitet und mit einer medialen Kampagne auf nationaler Ebene über den „gewaltätigen Flügel“, die „Profis der Guerilla“ und die sogennanten „Rädelsführer“.

Das Gericht gibt sich gleichzeitig Ziele vor, die qualitativ als auch quantitativ sind. Es zielt darauf ab, möglichst viele NoTav-Aktivist_innen mit verschiedenen Arten restriktiver Maßnahmen zu überziehen, und versucht mit fadenscheinigen Mitteln einige Genoss_innen vom Feld zu fegen. Am liebsten klagt das Gericht die unpopulärsten Taten an, um die Angeklagten dadurch „isolieren“ zu können. Und es unternimmt das Ganze mit einer Perspektive. Die Quantität und Qualität der repressiven Angriffe haben einen allgemeineren Zweck, nämlich den, zu spalten, zu demoralisieren und die NoTav-Bewegung letztendlich zu besiegen, und zwar als Warnung für alle anderen.

Die Akten durchzulesen erzielt den gleichen Effekt, wie wenn man die Nachrichten im Fernseher anschaut: in beiden Fällen handelt sich um den Totalitarismus der Fragmente.

Die Besetzung der Geovalsusa in Turin, von allen Aktionen des NoTav-Sommers, von der Kampagne gegen die kollaborierenden Firmen, und der Bewegung in ihrer Gesamtheit sind nicht zu trennen. Das Gleiche gilt auch für die Ereignisse von Chianocco am vergangenen 29. Februar.

Dies war ein langer Tag, der im Morgengrauen mit der besetzten Autobahn begonnen hatte und um 2 Uhr Nachts mit einem der aufgeladensten Plena der Geschichte der NoTav-Bewegung im Polivalente (An.d.Ü. Eine lokale Veranstaltungsort) in Bussoleno beendet wurde. Inzwischen, kam es vor der Blockade des TGV am Bahnhof zu einer Jagd auf ein Fernsehteam und einem mehr als 5-stündigem Widerstand auf der Autobahn. Eine „Tatsache“, steht in der Anordnung der U-Haft.

Eine Tatsache, sicherlich. Eine weitere ist, dass Luca sich immernoch im farmakologischen Koma befand. Eine andere ist, dass einige Journalist_innen ihn als einen „Blödmann“ bezeichnet hatten. Noch eine weitere Tatasache ist, dass am Tag davor einige Polizist_innen in Zivil in der Nähe einer der Blockaden aufgespürt worden waren, die in einem LKW, der angeblich einer Käsefabrik gegehört, die Gespräche der NoTav- Aktivist_innen abhörten. Und eine weitere ist, dass die Journalist_innen, die am 29. Februar weggeschickt wurden, mit einigen Rücksäcken mit Antennen, Gasmasken, verstärkten Mützen und einer blauen Sirene in ihrem Auto ausgerüstet waren… Ein Fakt ist auch, dass sie diejenigen gewesen sind, die die Videoaufnahmen gemacht haben, die zu dem Konstrukt im Fall „Pecorella“ (An.d.Ü. Wo ein Demonstrant während der Proteste einen Carabinieri als „kleines Schaf“ bezeichnete, auf Italienisch „Pecorella“ eben – und die ganzen Medien konzentrierten sich darauf, den Carabinieri für seine Selbstkontrolle zu loben und verteufelte den Demonstranten mehrere Tagen lang in den Medien, wo auch sein Name usw. veröffentlicht wurde. Ein niederträchtiger und gleichzeitig lächerlicher Fall, in Anbetracht der Quantität und Unterschiedlichkeit der Beleidigungen die während dieser Tage gegen die Bullen gerufen wurden. Ein Fakt ist, dass wenn 40 NoTav_ Aktivist_innen wirklich die drei JournalistInnen angegriffen hätten, wie es in den Akten steht, wären diese sicherlich nicht mehr fähig gewesen, sich auf ihren eigenen Beinen zu entfernen. Ein Fakt ist, dass die Episode von Chianocco reell nur einige Dutzend NoTav- Aktivist_innen miteinbezogen hat und dass am gleichen Abend davon auf dem Plenum in Bussoleno erzählt wurde. Ein Fakt ist, dass die Scheinwerfer der Medien sich auf eine magische Art ausgeschaltet haben, als die Polizei und die Carabinieri die Angriffe auf der Autobahn angefangen haben. Ein Fakt ist, dass die Massenmedien nicht von der militärischen Besatzungsmacht im Susa-Tal zu trennen sind. Ein weiterer Fakt ist, dass die gesamte herrschende Klasse für den Tav steht. Und eine andere ist, dass eine gesamte Bevölkerung, zusammen mit vielen solidarischen Menschen, seit über zwanzig Jahren Widerstand leistet.

Aus diesen ganzen Fakten wählt die Staatsanwaltschaft diejenigen aus, die sie braucht. Man sollte sich aber nicht wundern. Falls ihre Vorwürfe nämlich nicht mit den tatsächlichen Fakten in Einklang stehen, naja, dann: Schade um die Fakten, wie Lukacs sagen würde. Unter allen Verbrechen die die NoTav-Bewegung während der letzen Jahre im Tal, aber auch anderswo begangen hat – abgesehen von dem Verbrechen, das alle anderen einschließt, dem Willen nicht aufzugeben – werden die Justiz halb Italiens andere „Fakten“ zu Tage fördern und sie anhand ihrer Interessen selektiv einsetzen. Der Totalitarismus der Fragmente eben, Ausdruck und Instrument derjenigen, die durch das Schlüsselloch beobachten.

Was mich angeht, ich weigere mich, durch dieses Loch zu schauen.

Was mich angeht, der 29. Februar war einer der schönsten Tage. Und ich übernehme die Veranwortung dafür. Für den gesamten Tag.

Massimo Passamani

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